AVANIM

Hier findet ihr eine dreiteilige Podcast-Sondersendung, historische Dokumente, Fotos und einen Artikel zu einer Gedenkfeier vom 6. Juli 2022 “Momente des gemeinsamen Gedenkens” an vier Menschen, deren Zuhause die Mariahilfer Straße 112 in 1070 Wien war, ehe sie vom Nazi-Regime verfolgt und ermordet wurden.

Sie waren in diesen Gassen, sie lebten in diesen Wohnungen, in dieser unserer Stadt. Es war ihre Stadt, ihr Zuhause, es war ihr Leben. Manches ist immer zu wenig gesagt, zu wenig gedacht, zu wenig getan, zu wenig erinnert – und doch ist jedes Zuwenig ein bisschen dem Grauenhaften zum Trotz. Ein weiterer Sieg gegen die Sprachlosigkeit. Immer wieder ein Ende des Vergessen. Dies gelingt mit Worten, mit Musik, an Orten, gemeinsam mit anderen Menschen sein. Wer wir sind und wer wir noch werden verbinden wir mit wer sie waren und nicht mehr werden konnten. Durch unser Erinnern und Gedenken werden sie so Teil unseres Lebens. Nährend die Menschenwürde. Hier einen Augenblick verweilen, sich und ihnen Zeit geben, einen kleinen Moment ihren Leben Platz machen, ihre Namen hören, sie sein lassen.” Elisabeth Sechser


Sidonie Bernblum, geboren am 14.5.1882, am 17.8.1942 nach Maly Trostinec deportiert, am 21.8.1942 ermordet

Max Julius Bernblum, geboren am 31.10.1880, am 17.8.1942 nach Maly Trostinec deportiert, am 21.8.1942 ermordet

Fanni Feilbogen, geboren am 18.2.1871, am 8.5.1942 nach Chelmno deportiert und ermordet

Karl Fischer, am 26.12.1904 geboren, am 31.7.1943 nach Ausschwitz deportiert und ermordet

Eine Sichtart-Sondersendung in drei Teilen

Teil 1/3: Steine der Erinnerung Über den Verein, die Recherche zu dieser Steinlegung und die Ereignisse in der Nacht vom 17. auf den 18.12.1938

Teil 2/3: Der Gedenkabend an Sidonie und Max Julius Bernblum, Fanni Feilbogen und Karl Fischer vom 6. Juli 2022, gemeinsam gestaltet mit literarischen und persönlichen Texten, Gedichten und Musik.

Teil 3/3: Der Besuch ihrer Wohnungen. Wie Eveline Elisabeth (Liesl) März nach 84 Jahren die damalige Wohnung der Familie Bernblum betritt, über ihre Flucht in die Schweiz und später nach New York sowie die Rückkehr nach Wien.

Bei Fragen oder wenn Sie weitere Informationen haben, senden Sie uns gerne ein Mail an info@sichtart.at


TEIL 1/3: STEINE DER ERINNERUNG


Hier gibt es Tonspuren und die Nachlese zum ersten Teil dieser Sondersendung. Eveline Elisabeth (Liesl) März berichtet über biographische Recherche-Arbeiten zu dieser Gedenksteinlegung und Näheres zur Nacht vom 17. auf den 18. Dezember 1938. Weiters hören Sie Daliah Hindler vom Verein Steine der Erinnerung und erfahren beginnend mit der ersten Steinlegung 2005 mehr über die wertvolle Arbeit des Vereins.


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Wien, Mariahilfer Straße 112

Am 7. August 1938 wurde Eveline Elisabeth (Liesl) März als eines der letzten jüdischen Kinder im Rudolfinerhaus in Wien geboren. Jüdinnen war es damals bereits verboten, in einem öffentlichen Krankenhaus zu gebären. In der Nacht von 17. auf 18. Dezember 1938 fanden ihre Mutter, die Ärztin Gertraud Ruth März, mit der damals 4 Monate alten Tochter Eveline Elisabeth auf der Flucht nach Genf einige Stunden Schutz bei Verwandten, der Familie Bernblum, die in der Mariahilfer Straße 112 ihr zu Hause hatten, bevor sie am Westbahnhof in den Zug in die Schweiz stiegen. Mit dabei waren auch ihre Großeltern Marie und Sigmund März und ihr Großonkel Julius Jonas) Komrower.

Bei der Gedenksteinlegung für Sidonie und Max Julius Bernblum, Fanni Feilbogen und Karl Fischer am 10. Mai 2022 las Eveline Elisabeth (Liesl) März ein paar Zeilen aus dem Brief ihrer Großmutter vor, den diese am 18.12.1938, nach ein paar Stunden bei der Familie Bernblume, vor der Flucht ihrer Tochter und Enkelin, an ihren Schwiegersohn Eduard März schreib. Bei diesem Moment des Gedenkens lernten wir – Eveline Elisabeth (Liesl) März und Elisabeth Sechser – uns kennen. Da mein Arbeitsort die Mariahilfer Straße 112 ist, habe ich zu einem Gedenkabend für diese vier Menschen eingeladen. Eveline Elisabeth (Liesl) März nahm die Einladung gerne an.

Im Zuge der sorgfältigen, gemeinsamen Vorbereitung konnten sogar die genauen Wohnungen eruiert werden, in denen die Ermordeten noch bis 1939/1940 wohnten. Mariahilfer Straße 112, Stiege II: Fanni Feilbogen, Wohnung 21, Sidonie und Max Julius Bernblum, Wohnung 25, und Karl Fischer, Wohnung 27. Wir bekamen für diesen Anlass die Schlüssel zur Verfügung gestellt.

Alle drei Wohnungen standen zum Zeitpunkt des gemeinsamen Gedenkens, am 6. Juli 2022, leer.

Nach einem Zusammenkommen in meiner Sichtart-Zone, nach einem würdevollen Gedenken mit ausgewählten Gedichten, persönlichen Texten, Musik und einem Gebet für die Verstorbenen, für alle die Opfer, konnten wir gemeinsam alle drei Wohnungen besuchen, durch die Räume gehen, aus den Fenstern blicken und ihrer gedenken.

Recherchierte Meldedaten bis zu den Deportationen

Max Juilus und Sidonie Bernblum waren bis 13.Feburar 1940 in  Wien, 7., Mariahilfer Straße 112/25 gemeldet, danach bis 18. September 1941 in der Westbahnstraße 56-58/10 und dann bis 06. Februar 1942 in Wien 9., in der Wasagasse 8/12. Bis zum 23. Februar 1942 ist die Meldeadresse Wien 2, Novaragasse 40/8 und dann bis 17. August 1942 die Novaragasse 40/14. (Siehe weiter unten die Informationen zur Sammelwohnung). Danach heißt es: “Max Juilus Bernblum abgemeldet: Minsk mit Gattin”. Dieses “nach Minsk abgemeldet” bedeutet die Deportation nach Maly Trostinec. Hinrichtung bei Ankunft am 21. August 1942.

Fanny Feilbogen war bis 07. Mai 1940 in Wien, 7., Mariahilfer Straße 112/21, und danach in der Lindengasse 30/19 gemeldet. Sie und ihre Tochter Grete (Margarete) Haslinger-Feilbogen wurden am 5. Oktober 1941 nach Litzmannstadt in das Ghettos Lodz deportiert und am 8. Mai 1942 weiter nach Chelmno. Tag der Hinrichtungen unklar. Die offizielle Abmeldung von der Lindengasse erfolgte am 21. Oktober 1941 mit dem Vermerkt: “Judentransport“

Karl Fischer hat bis 1939 in der Mariahilfer Straße 112/27 gewohnt, war dann in Belgien bevor er am 31. Juli 1943 in das KZ Ausschwitz deportiert wurde. Der Tag seiner Hinrichtung ist unbekannt. Offiziell für tot erklärt wurde er erst am 8.5.1945

Die wertvolle Arbeit des “Vereins Steine der Erinnerung”

Der Verein Steine der Erinnerung wurde 2005 von Elisabeth Ben David-Hindler und Karl Jindrich (beide 2016 verstorben) gegründet und hat es sich zum Ziel gesetzt, der jüdischen Opfer des Holocausts zu gedenken und die Erinnerung an das jüdische Leben und die jüdische Kultur vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten wach zu halten. Dieses Gedenken wollen sie an den Orten, an denen jüdische Wiener_innen gelebt haben, durch das Setzen von „Steinen der Erinnerung“ verankern.

In dieser Sondersendung gibt es Auszüge aus dieser CD. Das hier verlinkte Lied “Mir lebn ejbig” ist das Finale einer Revue “Mojsche halt sich”, die 1943 im Wilnaer Ghetto komponiert und aufgeführt wurde. Im September 1943 wurde das Ghetto zerstört und seine Bewohner und Bewohnerinnen ermordet. Text: Lejb Rosenthahl (1943), Musik: aus dem Wilnaer Ghetto (1943). Das Lied “Volt Ikh Gehat Koyekh” erzählt von: “Wenn ich Kraft hätte, würde ich in die Gassen laufen und laut rufen: Frieden! – Gemeinsam haben wir Kraft, gemeinsam laufen wir in die Gassen, gemeinsam rufen wir laut: Frieden!

AVANIM bedeutet Steine auf hebräisch. Das Ensemble Avanim mit Agnes Riha, Christoph Kögler, Karin Waniek und Daliah Hindler entstand auf Anregung des Vereins „Steine der Erinnerung“ und bietet die musikalische Umrahmung bei dessen regelmäßigen Steinlegungen mit dem Ziel, zu einer lebendigen jüdischen Musikkultur in Wien beizutragen. Wer Interesse an dieser Musik-CD hat, erhält diese mittels Spende direkt beim Verein. 

Teil 2/3: GEMEINSAM GEDENKEN


Im zweiten Teil hören Sie die Originalaufnahmen vom 6. Juli 2022, die Gestaltung des Gedenkabends mit dem Brief von Hilde Bleier vom 18.12. 1938, mit literarischen und persönlichen Texten, Gedichten, Liedern und einem Gebet, gestaltet für Sidonie Bernblum, Max Julius Bernblum, Fanni Feilbogen, Karl Fischer, die hier ihr Zuhause hatten, bevor sie vom NS-Regime ermordet wurden.

Zu Teil 1

Hier könnt ihr diese Sondersendung Teil 2 anhören
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Das Programm vom 6. Juli 2022

Ruth Klüger

Nach der Begrüßung sprach Eveline Elisabeth (Liesl) März kurz über Ruth Klüger und las einprägsame Zeilen aus ihrem Buch “Weiter leben“ © Ruth Klüger, dtv Verlag, 1994, Wallstein Verlag Göttingen vor. Diese betrafen das siebenjährige Kind Ruth, das Zerstörungen von jüdischen Geschäften in der Mariahilfer Straße nach dem Novemberpogrom 1938 gemeinsam mit ihrem Vater hautnah erlebte. Ihr Vater sollte später den Holocaust nicht überleben. Die Wiener Wirklichkeit hatte sich drastisch seit dem Schuleintritt der sechsjährigen Ruth (Susi) in Wien Neubau im Herbst 1937 geändert. 

1942 wurde Susanne Ruth Klüger im Alter von elf Jahren gemeinsam mit ihrer Mutter ins KZ Theresienstadt deportiert. Anschließend war sie im Theresienstädter Familienlager des KZ Auschwitz-Birkenau und danach in Christianstadt, einem Außenlager des KZ Groß-Rosen. 1945 gelang ihr die Flucht noch kurz vor dem Kriegsende. Nach dem Krieg lebte sie mit ihrer Mutter im bayerischen Straubing in der Amerikanischen Besatzungszone, wo sie ein Notabitur ablegte. Diese Jugend beschreibt sie in ihrer 1992 erschienenen und viel beachteten Autobiographie weiter leben. Am 6. Mai 2022 würdigte der Bezirk Wien Neubau die 2020 verstorbene Schriftstellerin mit einer Erinnerungsstätte in der Burggasse, 1070 Wien.

Der Brief der Großmutter Hilde Bleier

Ich hatte die Ehre den Brief von Hilde Bleier vorzulesen, den sie am 18. Dezember 1938, einen Tag nach der Flucht ihrer Tochter und Enkelin, an ihren Schwiegersohn Eduard März (Ehemann von Gertraud Ruth März, geb. Bleier und Vater von Eveline Elisabeth (Liesl) März) schrieb. Sie finden diesen Brief und weitere Originaldokumente und Informationen in der Broschüre vom Verein Steine der Erinnerung, Stationen der Erinnerungen Neubau, 2. Teil ab Seite 26. 

Hier kommen Sie zur Broschüre zur Gedenksteinlegung 2013, Alsergrund, 3. Teil. Darin finden Sie auch weitere Informationen über Julius Komrower, dem Großonkel von Eveline Elisabeth (Liesl) März. Julius (Jonas) Komrower hat auch die Großfamilie Bleier-März am 17./18. Dezember 1938 zum Wiener Westbahnhof und in die Wohnung von Sidonie und Max Julius Bernblum begleitet. Er war ein älterer Bruder von Großmutter Marie März, geb. Komrower. Julius Komrower wurde im November 1941 Holocaust-Opfer: Am 23. November 1941 wurde er von Wien deportiert und am 29. November 1941 in Kowno, Litauen ermordet. Nun festgehalten auf der “Shoah Mauer der Erinnerung in Wien”: mehr als 65.000 Namen – auch Sidonie Bernblum, Max Julius Bernblum, Fanni Feilbogen, Karl Fischer

Ernst Waldinger

Eveline Elisabeth (Liesl) März und ich lasen abwechselnd vier ausgewählte Gedichte von Ernst Waldinger vor, aus „Noch Vor Dem Jüngsten Tag” Otto Müller Verlag, Salzburg 1990 und aus „Ich kann mit meinem Menschenbruder sprechen“ Berglandverlag Wien, 1965.

Ernst Waldinger entstammte einer jüdischen Familie. Er war Soldat im Ersten Weltkrieg und wurde 1917 in Rumänien schwer verwundet. Nach dem Krieg studierte er Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Wien. Anschließend arbeitete er für den Verlag “Allgemeiner Tarifanzeiger” von Alexander Freud, einem Bruder von Sigmund Freud. 1926 heiratete er eine Nichte Sigmund Freuds, Beatrice (Rosa) Winternitz. Sie hatten eine Tochter namens Ruth. 1933 war er Mitglied der Vereinigung sozialistischer Schriftsteller. Ab 1935 war er Mitherausgeber der Reihe “Das kleine Lesebuch”. Nach dem Anschluss 1938 floh er aus Wien vor den Nationalsozialisten nach New York. Er erhielt 1947 eine Professur für deutsche Sprache und Literaturgeschichte am Skidmore College in Saratoga Springs New York, die er bis 1965 innehatte. Als Lyriker und Essayist verarbeitete er die leidvollen Erfahrungen der Entwurzelung durch das Exil.

Gebet “El male rachanim” – “Gott voller Erbarmen”

G’tt voller Erbarmen, in den Himmelshöhen thronend,
es sollen finden die verdiente Ruhestätte
unter den Flügeln Deiner Gegenwart,
in den Höhen der Gerechten und Heiligen,
strahlend wie der Glanz des Himmels,
all die Seelen der Sechs-Millionen Juden,
Opfer der Shoah in Europa,
umgekommen in Heiligung Deines Namens;

Sidonie Bernblum, Max Julius Bernblum, Fanni Feilbogen, Margarete Feilbogen-Haslinger, Karl Fischer

Sieh die gesamte Gemeinde betet für das Aufsteigen ihrer Seelen,
so berge sie doch Du, Herr des Erbarmens,
im Schutze deiner Fittiche in Ewigkeit
und schließe ihre Seelen mit ein in das Band des ewigen Lebens.
G’tt sei ihr Erbbesitz,
und im Garten Eden ihre Ruhestätte,
und sie mögen ruhen an ihrer Lagerstätte in Frieden.
Und sie mögen wieder erstehen zu ihrer Bestimmung

am Ende der Tage.

Rabbi Yehoshua Witt sprach dieses Gebet auf Hebräisch

Max Bruch: »Kol Nidrei« op. 47

Ein Beitrag des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar 2021. Eingespielt durch Alexandre Castro-Balbi (Violoncello) und Can Cakmur (Klavier).

An einem Ort der Erinnerung zu leben und zu arbeiten

Persönlicher Text von Nikolaus Mayer

Was bedeutet das eigentlich? Werden vor dem eigenen Haus, in dem man lebt und arbeitet Steine der Erinnerung angebracht so geht man jeden Tag daran vorbei – manchmal mehrmals täglich, manchmal 2x, an manchen Tagen gar nicht. Auf meinen mitunter langen Fußwegen von meinem Arbeitsort, dem Wiener AKH, über den 9. Bezirk zum Schwedenplatz über die Praterstraße oft bis zum Mexikoplatz komme ich an vielen Erinnerungssteinen vorbei. Manchmal finde ich die Muße innezuhalten, zu lesen und zu erinnern, immer freue ich mich, wenn Steine frisch glänzend und poliert sind, oft genug sehe ich die Steine und laufe einfach daran vorbei und manchmal nehme ich sie nicht einmal wahr. Es ist der Alltag des Gedenkens und der Alltag des Vergessens.

Aber in den Wohnungen Vertriebener, Deportierter und Ermordeter zu leben und zu arbeiten ist dann doch noch einmal etwas ganz anderes. Nichts mehr in diesen Wohnungen ist ja noch heute so wie es damals war. Alles hat sich verändert vom Schnitt der Wohnung über das Mobiliar und den Farben bis zur gesamten Einrichtung. Doch eine Sache blieb unverändert und sieht heute noch genauso aus wie damals: der Blick aus dem Fenster – auf die gleiche Straße, die gleichen gegenüberliegenden Häuser, den gleichen Innenhof, ein größer gewordener aber immer noch der gleiche Baum, der gleiche Lichteinfall im Ablauf des Tages – all das blieb gleich.

Das ist der Eindruck, den wir mit diesen Menschen teilen können und es war vielleicht dieser Blick durch die Fenster der letzten Bleibe ins Freie, den die Vertriebenen mitnahmen, zunächst in die Sammelwohnung, zusammengepfercht mit anderen Juden, von dort zum Bahnhof, in die Deportationszüge und weiter an den Ort der Vernichtung nach Maly Trostinec oder anderswohin. Diese Vorstellung lehrt Demut und Dankbarkeit zugleich. Demut, weil einem sämtliche Probleme des eigenen Lebens – so belastend sie auch oft sein mögen – gegenüber dem Schicksal dieser Menschen nachgerade kleinmütig erscheinen und Dankbarkeit dafür in einem freien, dem Westen zugehörigen Land zu leben, in dem – ja auch in diesen dramatischen Zeiten – ein hohes Ausmaß an politischer Freiheit sowie sozialer und persönlicher Sicherheit gegeben ist.

Die Steine der Erinnerung geben auch Anlass an das Menschheitsverbrechen zu denken und daran seinen moralisch-ethischen Kompass auszurichten. Denn wenn es mit der Zeit des Nationalsozialismus einen Ort des absolut Bösen gegeben hat, an dem man absolut nicht mehr hin will, dann reicht es nicht seine Kompass daran vorbei zu auszurichten, nein man muss ihn nachgerade davon wegrichten auf einen Weg der Aufklärung, der Vernunft, der Mitmenschlichkeit und der Toleranz. Keine neuen zivilgesellschaftlichen Anliegen, sondern die mehr als 250 Jahre alten Ideen Voltaires.

Ich selbst stamme aus einer jüdischen Familie, die – und das ist selten – keinen einzigen ihrer Mitglieder im Holocaust verloren hat. Meinen Ur-Großeltern, Klara und Julius Sobotka, lebten in der Servitengasse. 1938 gelang ihnen mit ihren beiden Töchtern, meiner Großmutter und Großtante die Flucht nach England. Meine Mutter Elisabeth Weiss war damals 16 Jahre alt. 1946 kehrten meine Großeltern mit ihrer Tochter nach Wien zurück und meine Mutter heiratete. Unsere Eltern haben uns nie gesagt, dass wir Juden sind. Meine Mutter verstarb sehr früh, manchmal sagte sie uns Kindern sie geht in den Tempel – für uns Innenstadtkinder war das der Theseus Tempel im Volksgarten, nicht der Tempel in der Seitenstättengasse. Was sie dort machte wussten wir nicht – gefragt haben wir sie aber auch nicht. Ich selbst bin erst vor einigen Jahren in die IKG eingetreten.

Als ich 1991 Mira heiratete war mein „jüdisch sein“ noch ganz weit weg. Gleichwohl war es mir wichtig, dass Mira aus einer slowenisch-kärntner Familie und aus einer der letzten noch verblieben slowenischen Sprachinseln nördlich der Drau stammte. Ihre Familie hat seit dem Krieg mit Mut und Beharrlichkeit für den Erhalt der slowenischen Sprache, Kultur und Identität gekämpft. Erst heuer im Frühjahr gedachten wir in Celovec-Klagenfurt dem 40. Jahrestag der Vertreibung der Kärntner Slowenen. Und wenn wir 3 zusammen sind – Emilia, Mira und ich: ein behindertes Kind, eine Kärntner Slowenin und ein Jude, empfinde ich doch so etwas wie Genugtuung: die Nazis und ihre mörderischen Ideen sind fast verschwunden, aber wir sind immer noch da.

Am Ende meiner Ausführungen möchte ich eine tragikomische Geschichte erzählen, die ein gutes Ende genommen hat. Die beste Freundin meiner Mutter, Sonja Fischmann, für uns Kinder Tante Sonja, wurde während des Krieges nach Auschwitz deportiert. Ihr Vater war Jude, sie selbst nicht, aber es gab einen Vorwurf der Spionage, der sich nie erhärten ließ. Jedenfalls hat Tante Sonja Auschwitz als Funktionshäftling überlebt. Ihr damaliger Freund und späterer Ehemann Fredl Pittner hatte irgendwie nicht so eine genaue Vorstellung von Auschwitz und dachte es sei so etwas wie ein Gefängnis. Nachdem in Gefängnissen ja Besuche möglich sind, fährt er mitten im Krieg nach Auschwitz, um seine Freundin Sonja dort zu besuchen. Der Besuch misslingt – er wird aufgefordert sofort nach Wien zurückzufahren, andernfalls kann er gleich als Häftling in Auschwitz bleiben. Nach dem Krieg trifft Fredl einen hohen russischen Offizier, der für die Verteilung von Wohnungen zuständig war. Die beiden kommen ins Gespräch, nachdem der Russe aber kaum Deutsch konnte und Fredl auch nicht russisch, radebrechen sie so vor sich hin. Dann erzählt Fredl dem Russen, er war während des Krieges in Auschwitz – nämlich diesen Besuch bei Tante Sonja meinend – der Russe versteht aber nur Bahnhof und glaubt Fredl Pittner war als Insasse in Auschwitz. Er schätzt ihn als Opfer des Faschismus ein und teilt ihm eine schöne Wohnung am Wiener Graben zu, in der er dann gemeinsam mit Tante Sonja, nach ihrer Rückkehr von Auschwitz bis Anfang der 60er Jahre glücklich gelebt hat.

Überreichung des Buches von Nikolaus Mayer an Elisabeth Sechser

The Jews of Nazi Vienna, 1938-1945: Rescue and Destruction, Palgrave Studies in the History of Genocide, 2017, von Ilana Fritz Offenberger, der Cousine von Nikolaus Mayer

Teil 3/3: DER BESUCH IHRER WOHNUNGEN


In diesem Teil 3 besuchen wir die drei Wohnungen der Ermordeten in der Mariahilfer Straße 112, Stiege II: Fanni Feilbogen, Wohnung 21, Sidonie und Max Julius Bernblum, Wohnung 25, und Karl Fischer, Wohnung 27. Eveline Elisabeth (Liesl) März betritt nach 84 Jahren die Wohnung, die ihr und ihrer Mutter Schutz in dieser kalten Nacht 1938 gab. Weiters teilt Eveline Elisabeth (Liesl) März mit uns ein paar Erinnerung zur Flucht in die Schweiz und später nach New York sowie ihre Rückkehr nach Österreich.

Fanni Feilbogen war verheiratet mit Moses Samuel Feilbogen. Sie hatten vier Kinder: Friedrich Feilbogen, Paul Feilbogen (Er konnte in die USA flüchten), Robert Feilbogen (Wahrscheinlich kam er bis nach Italien) und Margarete (Grete) Feilbogen-Haslinger. Fanny Feilbogen und ihrer am 25. Oktober 1902 geboren Tochter Grete wurden am 5. Oktober 1941 nach Litzmannstadt in das Ghettos Lodz deportiert und am 8. Mai 1942 weiter nach Chelmno. Tag der Hinrichtungen unklar. Karl Fischer gelang die Flucht bis nach Belgien, eher er in das KZ Ausschwitz deportiert wurde. Tag der Hinrichtung unklar. Sidonie Bernblums Sohn aus erster Ehe Friedrich Bloch (auch Bluch) überlebte. Auch er konnte 1939 nach New York fliehen. Zu Teil 1 *** Zu Teil 2

Hier könnt ihr diese Sondersendung Teil 2 anhören
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Ihre Wohnungen besuchen, aus den Fenstern blicken, zurückkehren

Max Julius Bernblum, Parlamentsstenograph

Am 1.1. 1935 wurde Max Julius Bernblum in Pension geschickt mit dem Titel “Rat des höheren Stenographendienstes” des österreichischen Parlaments. Er war 54 Jahre alt; sein pensionierter Vorgesetzter Heilig war 53. Wie die Kurliste Bad Ischl von 1933 zeigt, war er “Sekretär beim österreichischen Nationalrat”; bei der Verabschiedung “Rat des höheren Stenographendienstes”. In der Galerie Bild 1 zeigt der Artikel der DWT vom 1934-12-23 gut, wie das Parlament verkleinert wurde. Weiterführend hierzu auch der Artikel von Dr. Detlef Peitz Parlamentsstenografen und NS-Diktatur

Die große Falle “Steuerunbedenklichkeitserklärung”

Allgemein kann man sagen, dass jeder Jude („im Sinne“ der Nürnberger Rassengesetze), der über RM 5.000 zu deklarieren hatte, das sogenannte „Verzeichnis über das Vermögen von Juden“ nach dem Stand von 27. April 1938 bis zum 15. Juli 1938 bei der sogenannten Vermögensverkehrsstelle abgeben musste.
Sowohl Frau Sidonie Bernblum wie auch Max Julius Bernblum haben dieses Verzeichnis rechtzeitig und detailliert abgegeben (jeweils die erste Seite ihrer Anmeldungen ist diesem Artikel beigelegt). Wichtige bürokratische Wege mussten dann bei der Zentralstelle für jüdische Auswanderung in der Prinz-Eugen-Straße (Palais Rothschild) ab August 1938 erledigt werden – später wurden die tragischen und grausamen Deportationen auch von dort organisiert. Die große Falle, ob es zur Auswanderung (Flucht) oder Deportation gekommen ist, war sehr oft die offizielle Bestätigung der jeweiligen Steuerunbedenklichkeit in der PrinzEugen-Straße 20. Dies brauchte man, bevor man überhaupt die Dokumente für den damaligen J-Pass einreichen konnte. Aber das Erlangen der Steuerunbedenklichkeit dauerte manchmal Monate oder sogar noch länger – inzwischen war der 2. Weltkrieg am 1. September 1939 ausgebrochen und viele jüdische Bürger blieben in Wien „hängen“.
Im Falle des Ehepaares Sidonie und Max Julius Bernblum könnte eine Annahme sein, dass sie jeweils für einen größeren Kredit zu bürgen hatten (von der Zeit vor dem Anschluss März 1938). Immer wieder gab es große Schwierigkeiten, wenn Kredite noch aus dem früheren Österreich später mit einem liquidiertem Unternehmen verquickt waren. Ich vermute – dies bleibt jedoch nur eine Vermutung meinerseits –, dass sie unter welchen Umständen auch immer steuerlich für eine gewisse Summe zu haften hatten. Auf jeden Fall mussten sie ihrerseits für ihre persönliche, jeweilige Reichsfluchtsteuer (25% des deklarierten Vermögens) und nach dem Novemberpogrom 1938 auch für die sogenannte Juva (Judenvermögensabgabe) haften. Aus meiner Auseinandersetzung und Recherche bei anderen Familienmitgliedern und im Freundeskreis weiß ich, dass die Frage von Steuerschulden ab 1938 – und zunehmend ab 1939-1941 (1942?) – zu immer größeren tragischen Verstrickungen bei den NS-Behörden führte. Ab 25. November 1941 verloren jüdische Bürger auch die deutsche Staatsbürgerschaft; nur in sehr seltenen Fällen konnte ein Pass ausgehändigt werden und damit die Flucht noch gelingen.
Eveline Elisabeth (Liesl) März, Broschüre vom Verein Steine der Erinnerung, Stationen der Erinnerungen Neubau, 2. Teil Seite 29

Verzeichnisse über das Vermögen von Juden. Originaldokumente mit Genehmigung des Österreichischen Staatsarchivs

Sammelwohnungen

Max Juilus und Sidonie Bernblum waren vor ihrer Deportation auch in der Novaragasse 40 gemeldet. Hier gab es eine Sammelwohnung. Für diese wurden auch Steine der Erinnerung für 144 Frauen, Kinder und Männer gesetzt. Nach jetzigem Eintrag im DÖW “Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands” sind mittlerweile 220 Namen bekannt.

Fanny Feilbogen und ihrer am 25. Oktober 1902 geboren Tochter Margarete Haslinger wurden am 5. Oktober 1941 nach Litzmannstadt in das Ghettos Lodz deportiert und am 8. Mai 1942 weiter nach Chelmno. Tag der Hinrichtungen unklar.

„mein himmel“ von Elfriede Gerstl

Elfriede Gerstl (1932-2009) wurde als Kind jüdischer Eltern in Wien geboren und überlebte versteckt die NS-Zeit.  Sie begann 1955 zu veröffentlichen, brach ihr Medizin- und Psychologiestudium ab und arbeitete als Journalistin und Schriftstellerin. Sie gehörte als einzige Frau der Wiener Gruppe an, lebte in den sechziger Jahren in Berlin und kehrte 1972 nach Wien zurück.

Der Abschluss unseres Gedenkabends fand in der damaligen Wohnung von Sidonie und Max Julius Bernblum, Mariahilfer Straße 112, Stiege II, Wohnung 25 mit dem Gedicht “mein himmel” statt.

Elfriede Gerstl “mein himmel”, aus: Haus und Haut. Werke Bd 3. © Literaturverlag Droschl 2014. Das Gedicht ist urheberrechtlich geschützt. Mit freundlicher Genehmigung zur ausschließlichen Nutzung im Kontext dieser Sichtart-Produktion, 2023

Mein Himmel ist hier und jetzt.
Mein Himmel ist meine Vorstellung von Himmel.
Er ist die Freundlichkeit, Verlässlichkeit, Anteilnahme
bei Glücks- und Unglücksfällen.

Mein Himmel ist nicht voller Geigen
sondern voll Solidarität.
Mein Himmel ist auch eine Utopie
von einer gerechteren Welt,
in der Einsicht und Nachsicht
tägliche Realität sein sollte.

Himmel ist das fest geknüpfte Netz
ähnlich Denkender und Fühlender
und das Glück, ihm anzugehören.
Wenn es noch einen anderen Himmel geben sollte,
lasse ich mich überraschen.

EINDRÜCKE VOM 6. JULI 2022

Vielen Dank an Daliah Hindler und das gesamte Team vom Verein Steine der Erinnerung, an Eveline Elisabeth (Liesl) März, an Heinz und Viktoria Lunzer und all jene die mitwirken, dass wir hier gedenken können, dass wir nicht vergessen, dass wir uns erinnern. Weiters vielen Dank an Prof. Roger Waldinger, den Enkel von Ernst Waldinger, an Arno Kleibel, an den Otto Müller Verlag, an den Berglandverlag, an Annette Knoch, an den Literaturverlag Droschl, an Lena Hartmann, an den Wallstein Verlag für die Nutzung der Gedichte und Texte zu diesem Anlass. Vielen Dank an Nils Kretschmer und Ines Schwarz, an das Deutsche Nationaltheater und die Staatskapelle Weimar, an Alexandre Castro-Balbi und Can Cakmur für die Nutzung von »Kol Nidrei« op. 47  in dieser Sondersendung. Vielen Dank an die Stadt Wien Kultur.

Moderation, Gestaltung, Produktion Elisabeth Sechser, SICHTART, Postproduktion OHWOW Podcasts. Diese Sondersendung & Nachlese wird gefördert von der Stadt Wien Kultur.