Demokratie ist keine Umerziehungsanstalt

Wir brauchen mehr Diskurs. Den kann man nicht bestellen. Den muss man machen. Es ist mir aus aktuellen Ereignissen ein Anliegen, ein paar Denkanregungen zu teilen. Wenn heute Sirenen von Einsatzfahrzeugen zu hören sind, klingen sie anders und erzeugen eine Aufmerksamkeit für den Schmerz. Die Bedrohung ist unmittelbarer. Der Schmerz liegt in der Stadt. Der Schmerz hat Gesellschaftscharakter.

“Der Schmerz ist ein komplexes kulturelles Gebilde. Unser Verhältnis zum Schmerz verrät in welcher Gesellschaft wir leben. Schmerzen sind Chiffren. Sie enthalten den Schlüssel zum Verständnis der jeweiligen Gesellschaft. Der Schmerz spiegelt sozioökonomische Verwerfungen wieder.”

Byung Chul Han

In seinem Buch Palliativgesellschaft beschreibt der Philosoph Byung Chul Han, wie die fortlaufende Individualisierung und Entpolitisierung von Schmerz der Gesellschaft schadet, sie schwächt. Denn wenn der Schmerz seinen Gesellschaftscharakter verliert und wir Fehler nicht in den gesellschaftlichen Verhältnissen suchen, können wir keine Veränderung in Gang bringen.

Der unmittelbar erlebte Terror hat einen gemeinsamen Schmerz erzeugt. Es muss uns gelingen, aus diesem Schmerz heraus gemeinsam für Demokratie und Menschenrechte und gegen islamistischen Terror einzutreten. Wir brauchen eine starke nichtrassistische Islamismuskritik. Wir müssen Desinteresse und moralische Faulheiten verlassen. Auseinandersetzung ist ein Muss. Ohne Stellungnahmen, ohne Empörung, ohne klare Abgrenzung, ohne das aktive Gestalten dieser sozialen Prozesse führt uns dieser Schmerz nur wieder zurück in unser jeweiliges Einzelschicksal. Dann muss wieder jeder und jede “selber schauen”, wie er oder sie zum eigenen Glück kommt. Dann werden die Gemeinwohl-Begriffe wie Selbstverantwortung, Selbstbestimmung, Selbstverwirklichung wieder Opfer des Irrglaubens, dass gutes Zusammenleben alleine möglich wäre. Es zeigte sich immer wieder, was passiert, wenn wir Debatten, Auseinandersetzungen, Streitgespräche und das Einstehen für Demokratie und Menschenrechte meiden. So verkümmern unsere menschlichen Fähigkeiten ungenutzt. Und genau sie sind mehr denn je gefragt und werden gebraucht. **

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Stille. Und Verniedlichungsrassismus

Sascha Lobo schreibt nach dem islamistischen Mord an dem französischen Lehrer über Linke Reaktionen auf islamistischen Terror. Es ist zu still.

Ich kann nur sagen, der politische Islam und Rechtsextremismus sind sich sehr ähnlich in ihrer Ideologie, ihrem Vernichtungswillen und somit auch ihrer Gefährlichkeit. Eine Linke, die sich nicht geschlossen gegen beides stellt, ist nichts wert. Eine Auseinandersetzung ist ein Muss. Die moralische Faulheit wirkt noch schlimmer. In zu vielen linken Köpfen hat eine eigentlich schlichte Erkenntnis keinen Platz: Menschen können zugleich Opfer von (strukturellem) Rassismus sein und Täter in Sachen Menschenfeindlichkeit. (…) Empört euch! Sonst könnt ihr euch eure Moral in die mit sicherlich fair gehandeltem, mikroplastikfreiem Shampoo gewaschenen Haare schmieren. 

Auszug Stille. Und Verniedlichungsrassismus von Sascha Lobo

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Hörempfehlung! Debatten-Podcast von Sascha Lobo. Kritische Auseinandersetzung zu seinem Artikel

Gegen eine „Diktatur der Beleidigten“

Ein Plädoyer für Meinungsfreiheit, Demokratie und Menschenrechte

Im Zusammenhang mit Satire kommt oftmals der Vorwurf von Respektlosigkeit und fehlender Wertschätzung. Das Stilmittel ist jedoch die Übertreibung oder Untertreibung als bewusste Bagatellisierung bis ins Lächerliche oder Absurde. Satire darf heute alles, sofern primär eine Botschaft transportiert werden soll, die geeignet ist, die Welt zu verbessern. Gleichzeitig muss dabei die Menschenwürde des Angegriffenen gewahrt bleiben. Die Menschenwürde ist nicht abwägbar. Überspitzte und auch geschmacklose Äußerungen sind jedoch erlaubt, wenn die Thematisierung eines Missstandes im Vordergrund steht. Satire provoziert Debatten und ist Beitrag zum öffentlichen Diskurs. Satire ist Ausdruck von Meinungsfreiheit. Als journalistisches Instrument muss sie erlaubt sein und akzeptiert werden. Ohne Pressefreiheit gibt es keine Demokratie und ohne Demokratie gibt es keine Pressefreiheit. Das Gegenteil von Pressefreiheit nennt man Zensur. In einer Demokratie ist Satire frei und muss frei bleiben, jedoch nicht unwidersprochen. Da sind wir wieder bei der Diskurseinladung.

„Meinungs- und Religionsfreiheit können nicht gegeneinander in Stellung gebracht werden, sie stammen aus derselben Quelle. Beide sind Individualrechte und bieten Schutz vor und nicht von Ansprüchen von Religionsgemeinschaften. Demokratie bedeutet, Meinungen – und das heißt auch immer Kränkungen auszuhalten – ansonsten droht eine „Diktatur der Beleidigten“.

Kirstin Breitenfellner, Autorin, Literaturkritikerin, Falter-Redakteurin, Rezension zum Buch “Charlie versus Mohammed”

Von einer Tabuisierung von Problemen profitiert am Ende stets nur der Tabubrecher. Im Bereich Migration und Islam agieren seit Jahren die Parteien der Rechten als Tabubrecher. Gerade dadurch konnten sie pauschalisieren und teilweise auch Hass schüren. (…) Die Demokratie ist keine Umerziehungsanstalt. Man kann Menschen etwas anbieten, aber es wäre eine Illusion zu glauben, alle würden der Strahlkraft von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten erliegen. (…) Wir werden nicht Dinge neu verhandeln, die längst ausverhandelt sind, und wir werden Menschenrechte und Gleichberechtigung durchsetzen.

Nina Scholz, Politologin und Heiko Heinisch, Historiker

**Wir müssen auch in anderen Bereichen Menschenrechte durchsetzen. Wir haben bei Gewalt gegen Frauen und Kinder, zur Bekämpfung von Armut und Diskriminierungen unterschiedlichsten Ausmaßes (…) den Gesellschaftscharakter des Schmerzes aus den Augen verloren. Mögen wir ihn wiederfinden. Wir brauchen ihn für unser Glück.

Hörenempfehlung! Die Podcastin von Regula Stämpfli und Isabel Rohner

So. Das war ein über-organisationaler Blogbeitrag mit einer Einladung zu mehr Austausch, gemeinsamen Nachdenken und mehr Diskurs. All das, was wir in dieser Pandemie-Zeit sehr vermissen. Auch in meiner Arbeit, dem Gestalten sozialer Prozesse in Organisationen, sehnen wir uns gerade nach mehr. Gutes Arbeiten hat immer mit Gutem Zusammenleben zu tun. Nicht nur Organisationen, sondern auch Kindergärten, Schulen, Universitäten, Freizeitparks, Familien und Freundeskreise müssen Orte sein, wo wir Zusammenhänge gemeinsam herstellen, Probleme erkennen, unsere Demokratie durch unsere kritischen Geister schärfen, gemeinsam die Welt betrachten und uns permanent in einem starken Urteilsvermögen üben. Statt reduzierter, linearer, begrenzter und populistischer Erklärungen zum Weltgeschehen in und außerhalb von Organisationen, brauchen wir all das. Wir müssen noch mehr, noch besser Zusammenhänge herstellen lernen und wesentliche Themen parallel im Blick behalten, die Interferenzen aufspüren, sichtbar machen. Es gibt kein Hauptthema für das wir uns entscheiden müssen, es gibt keine eindeutige Antwort. Es braucht jedoch das eindeutige Bestreben, gemeinsam unsere Demokratie zu stärken. Diskurs, die Fähigkeit essentielle Unterscheidungen zu machen, Vielfalt nutzen und in Zusammenhängen die Welt gestalten. Demokratie ist nicht nur keine Umerziehungsanstalt. Sie ist auch kein Selbstbedienungsladen und schon gar nicht selbstverständlich oder einfach. Ja, die Welt ist komplex.

Ergänzung vom 7.11.2020

 

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